Kurzgeschichten

 Amor & Psyche


Er kam in mein Leben wie ein sonniger Tag nach Monaten des Regens. Er war der verspätete Versuch das Versprechen des Sommers einzuhalten. Wohlig und warm umschloss er mich. Er war gut mit Worten. Mit seiner Schwäche für Details konnte er von den Sternen erzählen, bis du glaubtest, selbst auf einem zu leben.
Wir lernten uns nie wirklich kennen. Doch hätten wir es geschafft, hätten wir die Geschichte, wie wir uns kennengelernt haben, folgendermaßen erzählt: 
Er hätte mit den Worten begonnen: „Es war der September, in dem es deiner Schwester so schlecht ging“ 
Fließend, wie ein gut eingeübter Tanz, wäre ich eingestiegen: „Sie lebte zu jener Zeit in St. Petersburg. Ihr Zustand hatte sich rapide verschlechtert. Ich buchte also eilig einen Flug. Erst von Frankfurt nach St. Petersburg und nach ein paar Tagen sollte es für mich und meine Schwester weiter nach Zürich in eine Klinik gehen. Am Flughafen verbrachte ich noch einige Zeit in der dortigen Buchhandlung. Da sah ich ihn zum ersten Mal.“ 
Ich hätte gelächelt. Er hätte mich dann liebevoll unterbrochen: „Es war kein gemeinsames Greifen nach dem gleichen Buch. Nur einige flüchtige Blicke.“ 
Wir hätten uns wissend in die Augen gesehen. Er hätte meine Hand gehalten. 
„Wie das Schicksal es wollte, saß dieser Fremde dann im Flieger neben mir und laß ein Buch. Ich fand ihn einfach so schön. Und da habe ich ihn gefragt. Einfach gefragt. Gefragt, was er lese“, hätte ich stolz gesagt. 
In seiner Miene wäre ein Anflug von Verachtung für meine Tat erschienen, doch er hätte ruhig ergänzt: „Ich konnte mein Glück in diesem Moment kaum begreifen. Ein Herzschlag, der für einen Moment aussetzt. Ich hätte es nie geschafft, sie anzusprechen.“
Wir hätten gelächelt, wie Paare lächeln, wenn sie ihre Liebe für vorherbestimmt halten und all unsere Freunde und unsere Familien hätten unser Lächeln erwidert mit der schlecht verborgenen Erkenntnis, dass es nichts weiter als ein glücklicher Zufall war.

***

In St. Petersburg sahen wir uns jeden Tag. Einer Stadt, die uns beiden fremd vorkam. Wir besuchten kleine Cafés und Parks und erzählten uns die Geschichten unserer Leben. 
„Langsam habe ich das Gefühl, das Chaos ihres Lebens zu entwirren. Heute war sogar jemand da, der ihr Apartment kaufen würde.“
„Kommt sie denn nicht mehr zurück?“, fragte er.
„Ich lasse nicht zu, dass sie je wieder an diesen Ort zurückkehrt. Sie wird bei mir wohnen, sobald er ihr besser geht und eines Tages suche ich ihr eine kleine Wohnung in meiner Nähe oder auf dem Land“, farbenreich erschien mir diese Zukunft.
„Sie kann sich wirklich glücklich schätzen, eine Schwester wie dich zuhaben.“
Betreten sah ich zu Boden. 
„Ich wünschte, ich hätte eine Schwester wie dich“, er wollte mich aufmuntern.
Wir kamen beide aus unterschiedlichen Welten. Meine Kindheit bestand aus dem Geruch von selbst gemachter Marmelade auf frischem Brot. Seine handelte von lauwarmer Lasagne aus der Tupperdose. 
„Du bist ein guter Mensch“, sagte er.
„Ach, du kennst mich doch gar nicht. Wie willst du das beurteilen?“
“Manche Menschen sind menschlicher als andere. Du bist aus Fleisch und Blut. Du lebst. Du brennst. Du bist da.“
„Du redest von Menschen, als wärst du selbst keiner. Als wären sie dir alle fremd“, stellte ich nüchtern fest.

***

Einen Tag bevor ich mit meiner Schwester nach Zürich abreisen sollte, brachte er das Buch mit. Wir saßen auf einer kalten Parkbank. Die Sonne stand schräg am Himmel. Gold war die Farbe des Spätsommers. 
„Darf ich dir vorlesen?“, fragte er vorsichtig. Mir hatte zum letzten Mal meine Großmutter vor vielen, vielen Jahren etwas vorgelesen. Ich legte meinen Kopf an seine Brust und er umschloss mich mit seinem Arm. Dann begann er in sonorer Stimme mit der Geschichte. Die Art, wie er laß, gab ihr eine eigene Bedeutung. Eine tiefere. Vor meinem inneren Auge tauchten Charaktere und Orte auf, die ohne ihn völlig anders ausgesehen hätten. Ich verliebte mich in die Geschichte, die er laß, weil er sie laß. Als er viele Seiten später das Buch beiseite legte, sah er mir tief in die Augen. In diesem Moment wusste ich es. 
***
„Erzähl mir etwas“, brachte sie hervor.
Meiner Schwester ging es am nächsten Tag sehr schlecht. Wir konnten den Flug nicht mehr antreten. Es war zu spät. Sie wurde in ein heruntergekommenes Krankenhaus gebracht. Die Besuchszeiten verbrachte ich schweigend neben ihrem Krankenbett. 
„Eines Tages werden wir Kinder haben. Drei. Zwei Jungen und ein Mädchen. Das Mädchen wird mein Liebling. Ich werde sie wahnsinnig verwöhnen. Sie wird auch dein Liebling sein. In den Ferien wird sie dich besuchen kommen und ihr werdet zusammen backen - so wie wir früher“, ich versank in einer Zukunft, von der ich selbst wusste, dass sie nie eintreffen wird. Ich konnte von nichts anderem sprechen, als von ihm. Er war meine neue Realität geworden. 
Meine Schwester sprach hingegen kaum noch. Ihr einst so feines Gesicht war eingefallen und müde. Jeder Satz, den sie sagte, war eine Qual und dadurch umso gehaltvoller: „Was weißt du… wirklich über ihn?“

***

„Hör auf damit“, hörte ich ihn wie aus dem Nichts sagen. Er schaute von dem Buch auf. Die Abende gehörten ihm allein. Eine Flucht in die Fiktion.
„Womit soll ich aufhören?“, hatte ich gefragt.
„Das weißt du genau. Du kannst nichts dafür. Die Dinge sind, wie sie sind.“
Seine Antwort überraschte mich und als er mich ansah, verlor ich mich unwiderruflich in seinen Augen. Ich habe nie wieder heraus gefunden. Mit jedem Wort, das er laß, mit jeder Berührung, die er gab. Er war das rettende Floß auf stürmischer See. So glaubte ich zumindest damals. Doch selbst heute überkommt mich noch ein wohliges Stechen in der Magengegend, wenn ich sein Parfum in der Bahn rieche. Dann frage ich mich oft, ob es ihn etwa wirklich gegeben hat, oder ob er nur in meiner Einbildung existierte.

***

Als er die letzte Seite beendet hatte, schloss er das Buch. Die Geschichte hallte noch lange in mir nach. Ich hatte noch nicht einmal das Ende begriffen.  Er gab mir einen Kuss auf die Stirn und murmelte: „Danke für alles.“ 
Das Buch nahm er nicht mit.